Besonders das Straßenverkehrsrecht ist geprägt durch eine Beweisregel, die die sogenannte freie Beweiswürdigung der Gerichte einschränkt, nämlich den sogenannten Anscheinsbeweis oder Prima–Facie-Beweis. Dieses Institut knüpft an die Typizität eines Geschehensablaufes an, also an einen formelhaften Vorgang, der nach der Erfahrung des täglichen Lebens so sehr das Gepräge des Regelmäßigen, Üblichen, Gewöhnlichen und Häufigen trägt, dass die individuellen Umstände in ihrer Bedeutung zurückbleiben. Der Gegner desjenigen, der sich auf einen Anscheinsbeweis beruft, muss dann die ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufes dartun und beweisen. Der Anscheinsbeweis erlaubt es also, aufgrund einer bestimmten Wirkung auf eine bestimmte Ursache zu schließen und aufgrund einer bestimmten Ursache auf eine bestimmte Wirkung. Im Straßenverkehrsrecht ist er regelmäßig anwendbar auf die Kausalität und das Verschulden.
Bei heckseitigen Auffahrunfällen begründet der Anscheinsbeweis die Vermutung, dass der Auffahrende entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat, und/oder mit unangemessener Geschwindigkeit gefahren ist und/oder unaufmerksam war. Selbst dann, wenn im Einzelfall nicht festgestellt werden kann, welcher dieser drei Gründe vorliegt, spricht eine Vermutung für ein Verschulden des Auffahrenden, so dass er grundsätzlich haftet. Anderes gilt allerdings dann, wenn das Auffahren nicht feststeht, es also auch möglich ist, dass der Vordermann nach hinten gefahren oder zurückgerollt ist. Auch andere besondere Umstände können dazu führen, dass der Anscheinsbeweis zulasten des Auffahrenden nicht greift. So hat das OLG Koblenz mit Urteil vom 16.03.2015, Gz. 12 U 1010/14, entschieden, dass bei einem Auffahrunfall der Anscheinsbeweis zulasten des Auffahrenden nicht anwendbar ist, wenn die beiden unfallbeteiligten Fahrzeuge vor der Kollision wegen einer Ölspur ins Schleudern geraten waren.
Ein plötzliches Abbremsen des Vordermannes steht der Anwendung des Anscheinsbeweises zulasten des Auffahrenden aber grundsätzlich nicht entgegen, da der Sicherheitsabstand einzuhalten und stets damit zu rechnen ist, dass auch plötzlich abgebremst wird. Lediglich bei grundlosem Abbremsen findet der Anscheinsbeweis zulasten des Auffahrenden keine Anwendung, wobei es dem Auffahrenden in der Regel nicht gelingen wird, die Grundlosigkeit des Abbremsens des Vordermannes zu beweisen. Aber auch ein grundloses Abbremsen führt nicht etwa dazu, dass der Vordermann alleine haftet. So hat etwa das OLG Karlsruhe am 20.12.2012, Gz. 9 U 88/11, entschieden, dass bei einem Auffahrunfall der Anscheinsbeweis für einen schuldhaften Verkehrsverstoß des Auffahrenden in der Regel auch dann nicht erschüttert ist, wenn der Fahrer des vorderen Fahrzeugs ohne verkehrsbedingten Anlass eine abrupte Bremsung durchgeführt hat. Zwar sei auch die abrupte Bremsung ein schuldhafter Verkehrsverstoß, was allerdings den Auffahrende nicht völlig entlaste, so dass eine Haftungsquotelung von 50 % : 50 % angemessen sei. Nach herrschender Rechtsprechung wird der Anscheinsbeweis zulasten des Auffahrenden auch dann erschüttert, wenn der Vorausfahrende an einer grünen Ampel ohne zwingenden Grund scharf abbremst. Der bevorrechtigte Fahrzeugführer sei gehalten, die Grünphase einer Ampel auszunutzen, um einen ungehinderten Verkehrsfluss zu gewährleisten. Bremse er während der Grünphase ohne zwingenden Grund stark ab und fahre das nachfolgende Fahrzeug auf, könne dies sogar zu einer Alleinhaftung des Vorausfahrenden führen, da beim Anfahren einer soeben auf „Grün“ geschalteten Ampel die Pflicht zur Einhaltung des Mindestabstandes zwischen zwei Fahrzeugen außer Kraft gesetzt sei. Dies habe der Vordermann auch in seiner Fahrweise mit zu berücksichtigen.
Besonders kompliziert wird es dann, wenn sich ein sogenannter Ketten-Auffahrunfall ereignet, also ein Auffahrunfall, an dem mindestens drei Fahrzeuge beteiligt sind. Hier kommt es immer darauf an, ob feststellbar ist, dass der Vorausfahrende zuvor ebenfalls aufgefahren ist, oder ob er aufgeschoben wurde.
Die Komplexität der Materie und die vielen verschiedenen Unfallkonstellationen sollten jedoch stets Veranlassung dafür sein, sich anwaltlicher Hilfe zu bedienen, egal ob man der Auffahrende ist oder derjenige, auf dessen Fahrzeug aufgefahren wurde.
Christian Wagner, Rechtsanwalt H&P Rechtsanwälte
Neueste Kommentare